Vom Urteilen und Verstehen
„Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“ Dieses indianische Sprichwort bringt sehr gut auf den Punkt, was für mich Schauspiel bedeutet.
Wir labeln unbewusst
Das Urteilen ist evolutionär bedingt ein wichtiger Überlebensmechanismus. Im Alltag urteilen wir die meiste Zeit. Dabei neigen wir dazu unsere Mitmenschen, aber auch uns selbst, sehr schnell zu VER-urteilen. Dieses Verurteilen, was ich gerne als „Labeln“ bezeichne, passiert weitläufig meist unbewusst.
Das zeigt sich auf der Lebens-Bühne in „Theaterstücken“, wie zum Beispiel bei Ausgrenzung und Mobbing. Legitimiert durch Aussagen wie „Ich bin richtig und Du bist falsch“ oder „Ich bin besser und Du bist minderwertig.“ Das Labeln passiert in Sekundenschnelle. Wir stempeln unser Umfeld ab, stecken in Schubladen, verschließen diese und schmeißen den Schlüssel weg. Wir nehmen uns selten die Zeit, uns wirklich in unser Gegenüber hineinzuversetzen und zu verstehen, warum er so handelt.
Sich Zeit nehmen, um zu verstehen
Wenn ich als Schauspieler eine Rolle erarbeite, dann mache ich genau das. Ich nehme mir Zeit und gehe auf eine spannende Entdeckungsreise. Wer ist diese Person? Wie verhält sie sich und warum? Was ist ihr Antrieb? Was sind ihre Ängste, ihre geheimen Wünsche und Träume? Mit welchem Grundgefühl bewegt sie sich durchs Leben?
Wie ein neugieriger, offen interessierter Forscher versuche ich dieses individuelle Mikrouniversum zu ergründen und in das Leben jenes Menschen einzutauchen. Ich versuche zu verstehen, wie seine Kindheit, sein soziales Umfeld, seine Kultur ihn geprägt hat. Wie seine Art und Weise zu denken, fühlen und handeln, ihn zu dem Menschen gemacht hat, den ich zu verkörpern habe.
Verändere ich die Perspektive, kann sich meine Sichtweise verändern
Oft gibt es Rollen, die ich erstmal als böse bezeichne. Aber je mehr ich hinter die Fassade blicke, kann ich diesen Menschen in seinem Handeln verstehen. Das heißt nicht, dass ich als Schauspieler sein Handeln gutheiße. Aber in der Auseinandersetzung mit der Rolle kann ich es vielleicht nachvollziehen. Mir auch eingestehen, dass ich möglicherweise genauso gehandelt hätte, wenn ich in seiner Lebenssituation gewesen wäre.
Ich denke darüber nach, was ich machen könnte, um anders zu handeln. Und im besten Fall rege ich die Zuschauer dazu an, es mir gleichzutun. Meine Perspektive kann sich ändern und mein allererstes Urteil aufheben.
Es geht vor allem um die Unterschiede
Indem ich mich in die Mokassins der Figur begebe und spüre, wie sich diese anfühlen, verändert sich allmählich mein Gang, meine Haltung. Ich erkenne Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
Diese Unterschiede sind besonders spannend. Denn je mehr ich mich auf sie einlasse, werde ich mit meinen eigenen Themen konfrontiert. Das ist mitunter schmerzlich, emotional bewegend und aufwühlend. Aber vor allem erkenntnisreich.
Deshalb kann so eine Reise Angst machen und es erfordert Mut, sich darauf einzulassen. Es geht nicht um Therapie, sondern um Verstehen. So wachse ich und entwickle mich persönlich weiter.
Je mehr ich mich verstehe, umso mehr verstehe ich andere
Im alltäglichen Leben bewegt mich diese Arbeit dazu, mir meines eigenen vorschnellen Labelns, des oft unbewussten Verurteilens, bewusst zu werden. Denn je mehr ich mich selbst kennen lerne und verstehe, warum ich der bin, der ich bin, umso mehr kann ich mein Gegenüber verstehen. Ich sehe dann weniger Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten.
Dabei fällt mir ein weiteres indianisches Sprichwort ein. Sinngemäß heißt es, dass man mit zwei Ohren zuhört. Mit dem linken Ohr hört man das Wort und mit dem rechten das Bedürfnis hinter dem Wort. Meistens hören wir nur das gesagte Wort.
Wir suchen nach Anerkennung und Bestätigung
Wir sollten uns die Zeit nehmen hinter die Fassade zu blicken, den Menschen zu sehen und uns seinem persönlichen Kern nähern. Dann begreifen wir, dass es im Grunde immer um ein tiefes Bedürfnis nach Anerkennung, Bestätigung, gesehen und gehört werden geht.
Wir alle wurden im Laufe unseres Lebens verletzt. Jeder von uns wurde schon zurückgewiesen, ausgegrenzt, abgelehnt oder gemobbt, im schlimmsten Fall geschlagen oder missbraucht. Wenn nicht körperlich, dann verbal oder emotional. Ausgelacht, ignoriert, bewertet und verurteilt. Um mit diesen traumatischen Erfahrungen umzugehen, hat jeder seine ganz eigenen Strategien und Rollen entwickelt.
Wie würde unsere Kommunikationskultur aussehen, wenn wir mehr mit dem rechten Ohr zuhören? Wie würden wir miteinander umgehen, wenn wir uns die Zeit nehmen, in den Mokassins unseres Gegenübers zu laufen?

Autor Volkram Zschiesche
Ausgehend von der darstellenden Kunst entwickelte der Diplomschauspieler ein Konzept zur Persönlichkeitsentwicklung mit dem er auf mentaler, emotionaler und körperlicher Ebene Bewusstsein schafft…
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